Das roman­ti­sche Mai­land der “Navigli” zu Gast in St. Moritz!

 

Unser Muse­um darf wäh­rend der Win­ter­sai­son 2022–23 sei­nem Publi­kum Gio­van­ni Segan­ti­nis wun­der­schö­nes Früh­werk “Il Naviglio a pon­te San Mar­co” (1880) zei­gen, ein Gemäl­de aus ita­lie­ni­schem Pri­vat­be­sitz. Auf­grund des raf­fi­nier­ten Bild­auf­baus, des Farb­reich­tums und der Leben­dig­keit und Dyna­mik des Licht­zu­sam­men­spiels stellt die­ses Werk des damals 22-jäh­ri­gen Malers einen abso­lu­ten künst­le­ri­schen Höhe­punkt in sei­ner ers­ten Schaf­fens­pha­se dar. Segan­ti­ni hat­te 1880 sei­ne Aus­bil­dung an der Aka­de­mie Bre­ra gera­de been­det  und stand „noch ganz am Anfang einer stei­len Kar­rie­re“, so Dia­na Segan­ti­ni, Gio­van­nis Uren­ke­lin und pro­fun­de Ken­ne­rin des Werks ihres Urgross­va­ters. Sie bezeich­net das Gemäl­de als «wah­ren Licht­blick in Segantini’s Früh­werk, im sonst eher trüb dar­ge­stell­ten Mai­land, wo er zusam­men mit sei­ner Lebens­part­ne­rin Bice Bug­at­ti in ärm­li­chen Ver­hält­nis­sen lebte.»

Das Gemäl­de beschreibt ein Volks­fest in dem pit­to­res­ken, «vene­zia­nisch» anmu­ten­den, heu­te weit­ge­hend ver­schwun­de­nen Mai­land der «Navigli», also der künst­li­chen Kanä­le, die einst die Stadt mit dem Lago Mag­gio­re, dem Comer See sowie den Flüs­sen Tici­no und Po ver­ban­den. Nicht nur die Brü­cke San Mar­co, das archi­tek­to­ni­sche Haupt­ele­ment des Bil­des, son­dern auch das rech­te Ufer und die zwei­te Brü­cke im Hin­ter­grund der Sze­ne sind mit fest­lich geklei­de­ten Men­schen, vor allem Frau­en, bevöl­kert. Die, bei Segan­ti­ni eher unge­wöhn­li­che, hei­te­re Stim­mung, die uns die schmu­cken Klei­der und Son­nen­schir­me sowie die drei in den Him­mel stei­gen­den Luft­bal­lons ver­mit­teln, wird durch das Son­nen­licht ver­stärkt, in wel­chem das Mau­er­werk der Brü­cke, des rech­ten Ufers und der Haus­fas­sa­den auf der rech­ten Bild­hälf­te hell und warm erstrahlen.
Die­ses Licht wie­der­um ver­dankt sei­ne Inten­si­tät nicht zuletzt dem Kon­trast mit den Schat­ten­par­tien auf der lin­ken Bild­hälf­te: Die Vege­ta­ti­on am Kanal­ufer und vor allem das dunk­le drei­stö­cki­ge Gebäu­de im Vor­der­grund sowie des­sen Spie­ge­lung im Was­ser schaf­fen ein wir­kungs­vol­les Gegen­ge­wicht zu den hel­len Bild­ele­men­ten. Auf der Brü­cke, die das son­ni­ge mit dem schat­ti­gen Ufer ver­bin­det, spa­zie­ren leuch­tend weiss- neben schwarz­ge­klei­de­ten Damen und Mäd­chen, wäh­rend unter ihnen die rech­te Ufer­mau­er durch das rhyth­mi­sche Alter­nie­ren von Licht- und Schat­ten­seg­men­ten struk­tu­riert wird. Neben die­sen Hell-Dun­kel-Kon­tras­ten setzt Segan­ti­ni auch Farb- und Form­wie­der­ho­lun­gen raf­fi­niert als bild­kom­po­si­to­ri­sche Ele­men­te ein: Das Blau des Him­mels und der weis­se Farb­ver­lauf der leich­ten Wol­ken spie­geln sich im Was­ser, so auch die dunk­le und die oran­ge­ne Haus­fas­sa­de am lin­ken Ufer, wobei das leuch­ten­de Oran­ge, die Kom­ple­men­tär­far­be zu Blau, punk­tu­el­le Ent­spre­chun­gen in einem der Son­nen­schir­me und im vor­de­ren Teil der Balus­tra­de am rech­ten Ufer fin­det. Wir­kungs­vol­le Ent­spre­chun­gen sind auch bei den Lini­en und For­men der Kom­po­si­ti­on fest­zu­stel­len: Man ach­te etwa auf den Bogen der vor­de­ren Brü­cke, der sich mit sei­ner Spie­ge­lung im Was­ser fast zum Kreis schliesst. Die­ser lenkt unse­ren Blick in die Bild­tie­fe, wo eine gros­se Bar­ke und eine zwei­te Brü­cke die Bogen­form wiederholen.

Das Gemäl­de «Il Naviglio a pon­te San Mar­co» gehört zur prä-divi­so­nis­ti­schen Pha­se Segan­ti­nis. Erst sechs Jah­re spä­ter wird der Künst­ler begin­nen, sei­ne per­sön­li­che Mal­tech­nik zu ent­wi­ckeln und durch den getrenn­ten (tren­nen = divi­de­re) Auf­trag von Grund- und Kom­ple­men­tär­far­ben in fei­nen, lan­gen Pin­sel­stri­chen eine immer stär­ke­re Inten­si­vie­rung des Lichts in sei­nen Schöp­fun­gen errei­chen. Mit sei­ner Leucht­kraft aber stellt die­ses frü­he Gemäl­de, im Gegen­satz zu den ande­ren Wer­ken aus die­ser Pha­se, in denen Segan­ti­ni meis­tens die dunk­le Palet­te der Spät­ro­man­tik über­nimmt, eine Vor­weg­nah­me der lumi­nis­ti­schen Effek­te des Divi­sio­nis­mus dar und ermög­licht den Betrach­ten­den ein inten­si­ves, unver­gess­li­ches Lichterlebnis.
Das Segan­ti­ni Muse­um freut sich, mit der Leben­dig­keit, Leich­tig­keit, Fröh­lich­keit und Wär­me, die «Il Naviglio a pon­te San Mar­co» aus­strahlt, die Besu­che­rin­nen und Besu­cher erfreu­en zu können.