Non assol­taA messa prima
Vom Anek­do­ti­schen ins Symbolische

20. Mai – 20. Okto­ber 2023, Ver­nis­sa­ge: 30. Juni, 17.30 Uhr
Kura­tiert von Dr. Nic­colò D’Agati und Dr. Mirel­la Carbone

 

Im Zen­trum der Son­der­aus­stel­lung steht Segan­ti­nis berühm­tes Gemäl­de A messa pri­ma (Früh­mes­se) von 1885, das Resul­tat der Über­ma­lung eines frü­he­ren Wer­kes mit Titel Non assol­ta (Ohne Abso­lu­ti­on), das Ende April 1885 in Turin aus­ge­stellt wor­den war und bereits kur­ze Zeit spä­ter, Anfang Juli, in Mai­land in der heu­te bekann­ten Fas­sung und mit geän­der­tem Titel prä­sen­tiert wurde.

Non assol­ta

Non assol­ta
© Mart, Archi­vio del ‘900

Das frü­he­re Bild zeig­te eine jun­ge Schwan­ge­re, die mit gesenk­tem Kopf die Kir­che ver­lässt – der Titel ver­rät, dass ihr kei­ne Abso­lu­ti­on erteilt wur­de. Drei älte­re Frau­en fol­gen der „Sün­de­rin“ mit ihren – ver­ur­tei­len­den? – Bli­cken. Allein der Hund hält zu ihr.

Das Motiv der von der Gesell­schaft ver­stos­se­nen „Gefal­le­nen“ war in der ita­lie­ni­schen Iko­no­gra­phie der Zeit sehr popu­lär. Ist Segan­ti­ni bloss die­ser Mode gefolgt, oder nahm er, der mit sei­ner Lebens­ge­fähr­tin Bice in „wil­der Ehe“ leb­te und meh­re­re Kin­der hat­te, mit Non assol­ta auch eine anti­kle­ri­ka­le und moral­kri­ti­sche Hal­tung ein?

A messa prima

A messa prima

Über die­se Fra­ge lässt sich nur spe­ku­lie­ren, so auch über die Grün­de, war­um Segan­ti­ni mit der Über­ma­lung die Mög­lich­keit zu einer kri­ti­schen Les­art getilgt hat. Bekannt ist, dass Non assol­ta von der dama­li­gen Kunst­kri­tik weit­ge­hend igno­riert wur­de, abge­se­hen von einer Kari­ka­tur, die in der humo­ris­ti­schen Zeit­schrift La Luna ver­öf­fent­licht wur­de (sie­he Bild rechts). Hat sich der Maler des­halb für eine Über­ar­bei­tung ent­schie­den? Oder gefiel ihm der aus­ge­spro­chen anek­do­ti­sche Cha­rak­ter der Sze­ne bald nicht mehr? Tat­säch­lich ist in der neu­en Ver­si­on jedes anek­do­ti­sche Ele­ment getilgt: Die ein­zi­ge Figur auf dem Bild ist nun ein alter Pries­ter, der in gebeugt-alter­kon­tem­pla­ti­ver Hal­tung, mit hin­ter dem Rücken ver­schränk­ten Hän­den ein halb­of­fe­nes Buch hal­tend, dem Gele­se­nen nach­zu­sin­nen scheint. Eine Art ‹Andacht vor der Andacht› mit sym­bo­li­schen Qua­li­tä­ten. Die dunk­le Rücken­ge­stalt fügt sich har­mo­ni­scher als die frü­he­ren Figu­ren in die majes­tä­ti­sche Kir­chen­ar­chi­tek­tur der Szene.

Eine Archi­tek­tur zwi­schen Veris­mus und frei­er Interpretation 

Als Sze­ne­rie für das Gemäl­de Non assol­ta wähl­te Segan­ti­ni die baro­cke Aus­sen­ar­chi­tek­tur der Kir­che San Mar­ti­no Ves­co­vo in Ved­ug­gio (Bri­an­za). Er mal­te die monu­men­ta­le Haupt­trep­pe (sie­he Foto rechts) mit veris­ti­scher Genau­ig­keit. Gleich­zei­tig nahm er sich die Frei­heit, die Kir­che, auf die die Trep­pe in Wirk­lich­keit direkt zuläuft, an den lin­ken Bild­rand zu drän­gen, so dass der Ein­druck ent­steht, die Stu­fen wür­den direkt in den Him­mel füh­ren. Die­se Ver­bin­dung von Veris­mus und frei­er Inter­pre­ta­ti­on des Wirk­li­chen cha­rak­te­ri­siert auch den Umgang des Malers mit den Gege­ben­hei­ten der Natur, die er dann sym­bo­lisch auflädt.